Die Kehrseite der Medaille :
Peking - China hat auf seinem Weg zur Weltwirtschaftsmacht einen großen Sprung nach vorn gemacht, doch das rasante Wachstum der vergangenen Jahre kann die Probleme nicht verdecken. So ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf weiter schwach, mehr als 100 Staaten stehen besser da.
Von der Neuberechnung des Bruttoinlandsproduktes, die Chinas Wirtschaft über Nacht um ein Sechstel größer gemacht hat als bisher gedacht, hat der einzelne Chinese wenig. Er kommt gerade mal auf ein Fünftel des weltweiten Durchschnittswertes. Schlimmer noch, er steckt meist auf dem Lande ohne Arbeit fest oder wird in den Fabriken der globalisierten Welt ausgebeutet. Nur die Wohlstandsbürger des «Speckgürtels» in den Städten entlang der ostchinesischen Küste profitieren vom Boom, der von den billigen Arbeitskräften aus dem armen Westen des Landes gespeist wird.
Um den Stolz der Chinesen über den Aufstieg zur Wirtschaftsmacht zu dämpfen und westlichen Ängsten über die «chinesische Bedrohung» zu begegnen, erinnert der Leiter der Statistikbehörde, Li Deshui, daran, dass immer noch 100 Millionen Chinesen in Armut leben. Vor allem müsse das Milliardenvolk aber von seinem «verschwenderischen Wachstumsmodell» abrücken, warnte der oberste Statistiker. Draußen vor der Tür des Staatsratsgebäudes, wo er seine Pressekonferenz abhielt, lässt die verschmutzte Pekinger Luft den Atem stocken. Ein weiterer Preis des Wachstums sind die mit Industrieabwässern verschmutzten Flüsse, die in Zentralchina «Krebsdörfer» entstehen lassen und mit vergiftetem Wasser von einem Chemieunfall in Nordostchina selbst die Versorgung russischer Städte bedrohen.
Das Wasser wird knapper, während überall die Hähne tropfen, Toiletten laufen und Rohre lecken. Der Durst des chinesischen Drachen nach Öl lässt die Energiepreise weltweit steigen. Dabei braucht China sechs mal mehr Energie als Japan oder 3,5 mal so viel wie die USA, um einen Dollar zu erwirtschaften. Kämen die 1,3 Milliarden Chinesen auf das Wohlstandsniveau europäischer oder gar amerikanischer Verbraucher, wären die Welt und ihre Rohstoffe nicht groß genug. Chinas Entwicklung ist Heil und Fluch zugleich: Nur schnelles Wachstum kann den Chinesen genug Arbeit geben und die Probleme der nötigen Umstrukturierung lösen. Doch der meist unkontrollierte Boom zerstört das Land, macht die Menschen krank und lässt die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer werden.
Aus den jetzt vorgelegten neuen Zahlen der Statistiker lassen sich immerhin ein paar ermutigende Erkenntnisse ablesen. So scheint das Wachstum ein bisschen nachhaltiger zu sein als bisher geglaubt. Wenn Chinas Wirtschaft mehr von Dienstleistungen und weniger von der Industrieproduktion abhängig wird, sind nicht so viel Rohstoffe und Energie notwendig, um wie geplant jährlich acht Prozent Wachstum über die nächsten fünf Jahre zu unterstützen. Da die Wirtschaft weniger von Investitionen angetrieben ist, ist auch die Gefahr einer «harten Landung» geringer, die angesichts der globalen Verflechtungen der Wirtschaftslokomotive China weltweit Erschütterungen auslösen würde.
Der Anteil der Investitionen sei jetzt für eine sich entwickelnde Wirtschaft wie China auch «angemessener», selbst wenn es Sorgen über deren Effizienz gebe, sagte der Experte Green von der Standard Chartered Bank. «Alle Kennziffern, auf die wir jetzt blicken, zeigen an, dass die Wirtschaft gesünder ist.» War die heimische Nachfrage immer das Sorgenkind, zeigt sich, dass chinesische Städter mehr Geld in den Taschen haben und mehr konsumieren können. Das sind auch gute Nachrichten für deutsche Exporteure. Denn China ist noch vor Japan der wichtigste Handelspartner Deutschlands in Asien.
© dpa - Meldung vom 21.12.2005 06:42 Uhr